Der kleinste Mann der Welt
Wenn der kleine Khagendra aus seinem Fenster blickt, schaut er auf den höchsten Berg der Welt, den Mount Everest.
Khagendra ist nur 60 Zentimeter groß, er wiegt Fünfeinhalb Kilo und ist 16 Jahre alt. Khagendra gilt als der kleinste Mann der Welt.
Kaum jemand wusste, wo genau er lebt. Es gab im Internet ein Foto von ihm, ein paar dünne Daten, aber sonst nicht viel. Nach tagelanger Recherche konnte ich seinen ungefähren Aufenthaltsort eingrenzen,
und da ich noch einen Beitrag in Nepal drehen sollte, flog ich mit meinem Kameramann einfach ins Ungewisse. Dann aber hatte ich das, was man Journalistenglück nennt: ein Taxifahrer kannte einen Mann,
der einen Freund hatte, der einen Bruder hatte, der wiederum einen Freund hatte.......
Zwei Stunden später saß ich in einem kleinen, sehr dunklen Haus in einer nepalesischen Kleinstadt und sprach mit einem ältern, sehr verschlossenen Mann, der sich selbst zum Manager des "Kleinsten Mannes der Welt"
ernannt hatte. Unsympathisch war er und geldgierig. Er wolle den kleinwüchsigen Jungen weltberühmt machen und in einer Art "Menschenzoo" ausstellen, erzählte er mir nicht ohne Stolz.
Einen Tag später führte er uns zu Khagendra und seiner Familie. Als ich den Jungen zum ersten Mal sah, war das für mich ein sehr bewegender Moment. Khagendra reichte mir gerade bis zum Knie.
Ich begleite ihn zum Arzt und werde Zeuge, wie der gesamte Straßenverkehr der Kleinstadt stillliegt, sobald der Junge irgendwo auftaucht. Der Arzt erzählt vor laufender Kamera, dass Khagendras Körper stark deformiert ist, aber viel mehr könne er da auch nicht diagnostizieren. Immer wir rasselt Khagendras lauter Atem in unser Gespräch, immer wieder meldet er sich mit dünner Stimme zu Wort. Wie es wirklich um ihn steht, weiß wohl niemand so genau. Auch der "wohl kleinste Mann der Welt" nicht. Denn nicht nur sein Körper hörte im Alter von etwa drei Jahren auf zu wachsen, auch sein Geist blieb lieber zurück in vergangen Zeiten.
Khagendras Eltern hatten den Jungen in seinen ersten Lebensjahren vor der Außenwelt versteckt. Zu groß waren Scham und Angst vor Ausgrenzung. Ob der kleinwüchsige Junge deshalb geistig zurückgeblieben ist oder ob seine Krankheit der Grund dafür ist, konnte mir auch der Kinderarzt nicht erklären. Es war und bleibt für mich schwer, mir da eine Meinung zu bilden. Doch eines weiß ich genau: Khagendra hat auch Spaß an seinem Leben und ist ein wundervoller und liebenswerter Mensch.